Vier von zehn Menschen auf der Flucht sind Kinder und Jugendliche. Sie flüchten vor Krieg und Vertreibung, zusammen mit ihren Familien oder alleine, weil sie im Chaos von ihren Eltern getrennt werden. Andere treten ihren oftmals lebensgefährlichen Weg an, um der Armut zu entkommen. Viele der jungen Geflüchteten und Migrant:innen erfahren Gewalt, Ausbeutung oder Vernachlässigung. Gleichzeitig erleben sie den Verlust eines stützenden Umfelds, was sie besonders verletzlich macht. Diese Kombination erhöht die Wahrscheinlichkeit, Symptome psychischer Erkrankungen zu entwickeln. Vor allem Kinder und Jugendliche sind von diesem Risiko betroffen. Die SOS-Kinderdörfer bieten psychosoziale Unterstützung, um Kindern, Jugendlichen und ihren Familien beizustehen.
MHPSS: Grundsätze unserer Arbeit
Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung (MHPSS - Mental Health and Psychosocial Support) ist ein zentrales Element in der Arbeit der SOS-Kinderdörfer. Dabei umfasst MHPSS Aktivitäten zum Schutz und zur Förderung der psychischen Gesundheit und zur Behandlung psychischer Auffälligkeiten. MHPSS kann für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit unterschiedlichen Bedürfnissen als integrierte Unterstützung verstanden werden. Die Angebote basieren immer auf menschenrechtlichen Prinzipien.
Nothilfe und Bedarfserhebung
In der Nothilfe nach Flucht und Vertreibung fängt MHPSS schon bei der Bedarfsanalyse an, doch die belastenden Erfahrungen wirken noch lange nach, daher muss die Unterstützung auch langfristig angelegt sein. Dazu bedarf es einer guten Koordination aller Akteur:innen.
Die Bedarfserhebung soll gut definieren: Welche Informationen werden genau benötigt – und welche gibt es schon? Es gilt keine Zeit und Ressourcen in Informationen zu investieren, die schon vorhanden sind und Menschen durch die immer gleichen Fragen verunsichern. Grundlegende Prinzipien sind, die Betroffenen partizipativ zu beteiligen (Kontrolle über ihre Informationen, Sicherheit) und aufzuklären, warum man den Bedarf erhebt und was mit den Informationen geschieht.
Stabilität und Sicherheit
Ein erstes Ziel ist es, die Grundbedürfnisse der Geflüchteten auf Nahrung, Kleidung, Wasser, Hygiene, Unterkunft und medizinischer Versorgung zu decken. Dies gibt eine Stabilität, auf der andere Maßnahmen aufbauen können. Die Partizipation der Menschen bei der Planung und Implementierung, z. B. die Verteilung von Gütern, ist Voraussetzung für den Erfolg und gibt den Geflüchteten ansatzweise Kontrolle über ihr Leben zurück. Nicht zu vergessen ist, dass die körperliche Sicherheit gewahrt werden muss. Das heißt: Sind die Orte für Unterkunft und andere Aktivitäten sicher? Können sanitäre Anlagen sicher genutzt werden?
Erste Begegnungen können eine Möglichkeit sein, über Traumata, damit zusammenhängende Symptome und Reaktionen aufzuklären. Begleitend sollte es Beschwerdemechanismen geben, die bekannt und zugänglich sind. Für Kinder und Jugendliche können Kinderschutzräume aufgebaut werden, in denen sie sich ein Stück Alltag und Sicherheit zurückerobern.
Retraumatisierungen vermeiden
Situationen, in denen sich Geflüchtete wieder bedroht und ausgeliefert fühlen, die Angst und Ohnmacht erzeugen, in denen Vertrauens- und Kontrollverlust riskiert werden, sind für die Betroffenen potentiell retraumatisierend: Erinnerungen können Gefühle von Angst und Panik erzeugen.
Auf Grundlage all dieser Aspekte müssen Aktivitäten auf die folgenden Punkte geprüft werden:
- Wer organisiert die Aktivitäten? Welche Machtbeziehungen gibt es? Beispielsweise sind Frauen bei der Verteilung von Hilfsgütern miteinzubeziehen, damit Männer diese Rolle nicht ausnutzen können.
- An welchen Orten finden Aktivitäten statt? Waren dies Orte von Konflikten? Was ist hier früher geschehen? Sind sie sicher zugänglich?
- Welche Kriterien gibt es? Muss man sich „qualifizieren“? (damit werden gleich viele Leute ausgeschlossen)
- Gibt es Beschwerdemechanismen?
- Gibt es Partizipationsmechanismen?
Resilienz stärken
Nach Flucht und Vertreibung sollte so schnell wie möglich die Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit, der Menschen gestärkt werden. Dazu müssen wieder vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut werden, ein neues Netzwerk kann entstehen. Hilfreich dafür sind Gruppen, die sich regelmäßig austauschen.
Information ist eine wesentliche Ressource. Beispiele sind: Was sind menschliche Reaktionen nach der Flucht ("Meine Reaktionen sind normales Verhalten auf unnormale Situation und nicht umgekehrt.")? Wo gibt es materielle Unterstützung, wo findet etwa die nächste medizinische Versorgung statt? Wo sind andere Familienmitglieder untergekommen?
Zum Thema Resilienz gehören auch viele der unten beschriebenen Interventionen.
Kooperation und Koordination
So schnell wie möglich ist das Gemeinwesen mit einzubeziehen und zu unterstützen.
Grundlegend ist die Zusammenarbeit mit Gesundheitseinrichtungen, Schulen, Stadtverwaltungen, religiösen Institutionen oder vorhandenen Vereinen. Sind diese alle zerstört, sollte schnell an einer Neuorganisation von Basisdienstleistungen gearbeitet werden.
All diese Organisationen bieten unterstützende Ressourcen, die für die Menschen wichtig sind. Sie sollten von Anfang an über die Prinzipien der Nothilfe informiert und miteinbezogen sein.
Als Gemeinschaft kommt auch den Familien eine entscheidende Rolle zu, die es zu stärken gilt. Dabei können die Eltern lernen, wie sie auf ihre Kinder sehen, und diese unterstützen.
Mögliche Interventionen
Seit einigen Jahren schulen die SOS-Kinderdörfer Mitarbeiter:innen, Freiwillige, Partner:innen aus lokalen Graswurzel-Organisationen und staatliche Fachkräfte in verschiedenen evidenzbasierten Interventionsmaßnahmen. Evidenzbasiert bedeutet, dass die Maßnahmen erprobt und ihre Wirkung nachgewiesen wurde. Ziel ist es, möglichst viele Menschen zu erreichen: durch Grundversorgung und Sicherheit, Unterstützung von Familien sowie gemeindenahe Unterstützung. Diese Methoden sind leicht zu erlernen und ohne großen Aufwand umzusetzen. Dazu gehören:
Psychologische erste Hilfe
Psychologische Erste Hilfe (PEH) beschreibt mitmenschliche, unterstützende Reaktionen gegenüber leidenden und hilfsbedürftigen Individuen. Die drei Grundprinzipien sind beobachten, zuhören und weitervermitteln (im Englischen die drei "L" = look, listen, link).
PEH beinhaltet folgende Themen:
- Angebot praktischer Hilfe und Unterstützung, ohne dabei aufdringlich zu sein
- Einschätzen von Bedürfnissen und Anliegen
- Menschen zu unterstützen, ihre Grundversorgung zu sichern (Nahrung und Wasser, Information)
- Menschen zuzuhören, sie zu trösten und ihnen zu helfen, sich zu beruhigen
- Menschen helfen, dass sie Information, Betreuung und soziale Unterstützung erhalten
Problem Management Plus
Im Rahmen von "Problem Management Plus" werden fünf Sitzungen mit einer Einzelperson durchgeführt. Der Ansatz beinhaltet Problemmanagement (Problem definieren, verschiedene Lösungen suchen, eine Lösung auswählen und Aktionen planen) plus ausgewählte Verhaltensstrategien (z. B. Atemübungen). Durch die Kombination dieser Strategien zielt dieses Programm darauf ab sowohl auf psychologische Probleme (z. B. Stress, Angst, Gefühle der Hilflosigkeit) als auch, wenn möglich, auf praktische Probleme (z. B. Probleme mit der Existenzsicherung, Konflikte in der Familie usw.) einzugehen.
Insgesamt sollen Teilnehmende aktiviert werden, in kleinen Schritten Lösungen für die eigenen Herausforderungen zu finden, aktiv vorhandene Ressourcen zu nutzen und positive Bindungen aufzubauen. Der Ansatz hilft nachweislich langfristig, krisenbelastete Menschen zu stärken.
TeamUp
Während der wöchentlichen TeamUp-Sessions erleben Kinder oder Jugendliche strukturierte Spiel- und Bewegungsaktivitäten, die von geschulten Betreuungspersonen geleitet werden. Jede Aktivität hat ein bestimmtes Ziel, das sich wiederum auf ein bestimmtes Thema bezieht, z. B. den Umgang mit Wut oder Stress und die Interaktion mit Gleichaltrigen. Kommunikationsmittel sind Spiel und Bewegung und nicht die Sprache. So können alle Kinder teilnehmen, auch wenn sie keine gemeinsame Sprache sprechen.
Kinder und Jugendliche werden dadurch in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt, lernen mit Stress umzugehen und ihre Ängste zu überwinden.
Self-Help Plus (SH+)
Self-Help Plus (SH+) ist ein gruppenbasierter Kurs zur Stressbewältigung für Erwachsene in fünf Sitzungen – im Prinzip: Problem Management Plus für Gruppen. Der Kurs eignet sich für alle Situationen, in denen die Bevölkerung vielen Belastungen ausgesetzt ist. Es hat sich gezeigt, dass der Kurs das Auftreten von psychischen Störungen bei Erwachsenen verhindern kann.
SH+ verwendet aufgezeichnete Audiodateien und einen illustrierten Leitfaden, um Stressbewältigungsfähigkeiten zu vermitteln. Dieses innovative Format macht es möglich, dass auch Nicht-Fachleute unter Aufsicht eine kurze Schulung zu SH+ absolvieren und diese dann bei großen Gruppen (von z. B. bis zu etwa 30 Personen) anwenden.
EASE (Early Adoloscents Skills for Emotions)
EASE ist eine psychologische Gruppenhilfe für junge Heranwachsende (10–15 Jahre), die Notlagen in benachteiligten Gemeinschaften ausgesetzt sind.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat diese kurze Intervention entwickelt, um jungen Menschen zu helfen, die z. B. von Depression, Angst und Stress betroffen sind. EASE setzt auf vier Strategien oder Fähigkeiten: die Identifizierung von Gefühlen, Stressbewältigung, Verhaltensaktivierung und Problemlösung.
EASE kann in einem breiten Spektrum von Settings eingesetzt werden. Idealerweise sollte es mit Angeboten verknüpft werden, die bereits mit Jugendlichen arbeiten (z. B. in Schulen oder anderen Lernzentren) oder die in jugendfreundlichen Räumen stattfinden (z. B. Jugendclubs). Die Maßnahme stärkt auch den Kinderschutz in den Einrichtungen.
Traumasensible Pädagogik
Pädagogischen Mitarbeiter:innen der SOS-Kinderdörfer (Personal in den SOS-Kinderdörfern sowie in Kindergärten, Schulen und Jugendprogrammen der SOS-Kinderdörfer) werden in Trauma-sensibler Pädagogik ausgebildet, damit sie den Kindern und Jugendlichen gegenüber eine empathische einfühlsame Haltung zeigen. Dadurch können sie auf die durch belastende Erfahrungen hervorgerufenen Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen unterstützend reagieren.
Trauma-sensible Pädagogik will das Verständnis und die Praxis in Bezug auf Arbeit mit Traumata von Kindern, die in alternativen Betreuungseinrichtungen leben, verändern.
Der Ansatz unterliegt folgenden 5 Prinzipien:
- Traumabewältigung ist nur in konsequenten fürsorglichen Beziehungen möglich.
- Trauma muss aus einer entwicklungspsychologischen und ökologischen Perspektive verstanden werden.
- der Weg der Traumabewältigung sollte eine Partnerschaft sein.
- Traumasensible Pädagogik basiert auf den Rechten der Kinder.
- Die Sprache, die wir über das Trauma von Kindern verwenden, muss neu formuliert werden, um wertschätzend und verstehend den Weg zur Selbstwirksamkeit zu unterstützen.
I support my friends
I Support My Friends baut auf den Grundsätzen der Psychologischen Ersten Hilfe auf. Die Methode erkennt die Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen an, Fähigkeiten zur Unterstützung ihrer Freund:innen zu entwickeln, und stellt sicher, dass sie dies unter Begleitung von Erwachsenen und unter Beachtung des Kinderschutzes sicher tun können.
Im Mittelpunkt des Trainings und der Methode stehen die weltweit anerkannten Prinzipien LOOK, LISTEN, LINK, wie sie auch in Psychologischer Erster Hilfe (s. o.) angewendet werden.
I Support My Friends befähigt Kinder und Jugendliche, Gleichaltrige in Not zu erkennen und zu unterstützen, und erkennt gleichzeitig die Rolle an, die sie von Natur aus in den Netzwerken ihrer Gleichaltrigen spielen.
Fazit
Die dargestellten evidenzbasierten Methoden werden aktuell innerhalb der Föderation der SOS-Kinderdörfer geschult und angewandt. Es sind Ansätze, die in Kriegs- und Fluchtsituationen eine erste Hilfe bieten. Gleichzeitig nutzen wir weitere Methoden, die die Kolleg:innen vor Ort kennen und sinnvoll einsetzten können. Dies kann von Ort zu Ort sehr unterschiedlich sein, so wie die Ausbildungen und Erfahrungen der Kolleg:innen verschieden sind und der Bedarf der Kinder und Jugendlichen unterschiedlich ist.
Im Mittelpunkt steht immer das Ziel, die psychische Gesundheit und das soziale Wohlbefinden der Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien zu fördern und ihre Resilienz zu stärken.
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