"Die SOS-Kinderdörfer waren für uns da, als es am schwierigsten war"

Als Kind überlebte Merka das Massaker von Srebrenica. Später kehrte sie mit ihrer Familie zurück. Hier berichtet sie, wie sie es mit unserer Hilfe wieder geschafft hat, aufzustehen.

Auf den ersten Blick erweckt Srebrenica fast den Eindruck einer verlassenen Stadt. Die Menschen leben verstreut in kleinen Dörfern und Bauernhöfen außerhalb des Stadtzentrums. Es gibt keine Busverbindungen, nur der Schulbus fährt einmal täglich durch die Innenstadt. Traurige Bekanntheit erlangte der Ort durch das Massaker von Srebrenica. Am 11. Juli 1995 nahmen bosnisch-serbische Einheiten die Stadt Srebrenica unter Führung des Militärchefs Ratko Mladić ein und töteten in den darauffolgenden Tagen über 8.000 muslimische Bosnier, Männer und Jungen. Das Massaker von Srebrenica gilt in Europa als das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Die Erinnerungen und Folgen des Krieges kennzeichnen Srebrenica nach wie vor. Und das nicht nur wegen der Einschusslöcher, die an einigen Gebäuden sichtbar sind. Die Stadt kämpft darum, aus einem wirtschaftlichen Rückstau herauszukommen, der auch große soziale Herausforderungen mit sich bringt. Es mangelt an Infrastruktur, an öffentlichen Verkehrsmitteln und an Arbeitsplätzen. Und nicht zuletzt sind viele der Bewohner immer noch traumatisiert von den Kriegserlebnissen und den menschlichen Grausamkeiten.

Die SOS-Kinderdörfer in Srebrenica

Genau hier setzt die Arbeit der SOS-Kinderdörfer an. Im Jahr 2015 richteten die SOS-Kinderdörfer ein Familienhilfeprogramm in Srebrenica ein, um Familien zu stärken und zu verhindern, dass Kinder die Fürsorge ihrer leiblichen Familie verlieren. Psychosoziale Unterstützung und die Möglichkeit, ein stabiles Einkommen zu erzielen, sind die beiden Hauptsäulen der Arbeit mit den Familien. Das SOS-Kinderdorf-Team besteht aus einem Erzieher, einem Psychologen und einem Sozialarbeiter. Jede Familie hat ihren ständigen Berater. Gemeinsam erstellen sie einen Plan, der auf die individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten zugeschnitten ist. So helfen die SOS-Kinderdörfer den Menschen, aus der Armutsspirale auszubrechen und ihren Kindern eine gute Kindheit zu ermöglichen. 91 Familien mit 400 Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen erhalten aktuell Unterstützung.

Merkas Geschichte 

Auch die 37-jährige Merka und ihre Familie erhalten Unterstützung von den SOS Kinderdörfern. Merka wurde während des Bosnienkrieges vertrieben. Zuerst nach Srebrenica, dann über Potočari nach Vogošća am Stadtrand von Sarajevo. 2008 kehrte sie mit ihrem Ehemann und ihrem einjährigen Sohn nach Srebrenica zurück. Dies ist ihre Geschichte:

"Mein Name ist Merka. Srebrenica ist meine Heimatstadt. Ich war hier während des Krieges. Und das wurde unser trauriges Schicksal. Ich war 10 Jahre alt. Wir lebten in Shljivica, einem kleinen Dorf außerhalb von Srebrenica. Ich hatte meine Familie, meine Mutter, meinen Vater, meine Brüder und Schwestern. Wir waren eine glückliche Familie. Eines Tages, früh am Morgen, gab es eine Nachricht, dass die Nachbarstadt Kraljivoda gefallen sei. Und dass wir hier rauskommen mussten, jetzt! Es war 5:00 Uhr morgens im Winter. Draußen lag ein Meter Schnee, es war schwer zu gehen. Und sie schossen von serbischer Seite auf uns.

Grabsteine an der Völkermord-Gedenkstätte in Potočari in der Nähe von Srebrenica. Foto: Bjorn Owe Holmberg

"Zu Hause im Dorf, bevor wir flohen, wurde mein kleiner Bruder Mersin, der sieben Jahre alt war, von einem Granatenangriff getroffen."

Wir kamen zu Fuß nach Srebrenica. Dort fanden wir ein verlassenes Gebäude unterhalb der Kirche. Ohne Türen und Fenster. Wir hatten nichts, nicht einmal Decken. Zu Hause hatten wir ein warmes Haus verlassen. Wie obdachlose Katzen krochen wir zusammen in ein Eck, um zu überleben. 

Es war ein Kampf ums Dasein. Wir lebten Tag für Tag. Es gab Tage, manchmal bis zu fünf, an denen wir nichts zu essen hatten. Uns fehlte es auch an Kleidung, Schuhen, oft sogar an Wasser. Srebrenica war voller Menschen, die aus Dörfern und Gebieten rund um die Stadt fliehen mussten. Wir mussten einen ganzen Tag lang für einen Krug Wasser in der Schlange stehen. Und dann waren da noch die Granaten. Zu Hause im Dorf, bevor wir flohen, wurde mein kleiner Bruder Mersin, der sieben Jahre alt war, von einem Granatenangriff getroffen. Sein Magen wurde zerrissen. Er lebte lange genug, damit wir ihn ins Krankenhaus bringen konnten. Aber als sie ihn auf den Tisch hoben, war er tot.  

Dann, nach fast drei Jahren in Srebrenica kam der traurige Tag. Es war 1995. Wir hörten Lärm und Schreie auf den Straßen. "Srebrenica ist gefallen!" Es herrschte Chaos. Du weißt nicht, wohin du gehen oder was du tun sollst. Mein ältester Bruder floh durch den Wald, der jüngste war mit meiner Schwester verschwunden. Die anderen von uns gingen in Richtung Potočari, wo sich das UN-Lager befand. Dort blieben wir für drei Nächte, draußen unter freiem Himmel. Wir sahen die Häuser, die bosnisch-serbische Streitkräfte in Brand steckten, hörten die Schüsse. Sie kamen und wählten Leute aus. Nahmen sie mit. Sie taten, was sie wollten. Wir haben versucht, ruhig zu bleiben, zu überleben. Einige werden weggeschleppt. Man hörte die Schreie.

"Wohin sie meinen Vater gebracht haben, was passiert ist... Ich wusste es damals nicht, und ich weiß es heute immer noch nicht genau."

Dann wurden wir mit Bussen aus der Gegend gebracht.  Wir standen in einer langen Schlange, und die bosnisch-serbischen Streitkräfte entschieden, wer in welchen Bus einsteigen durfte. Meine Mutter und mein Bruder stiegen in einen Bus. Papa und ich mussten warten. "Papa, wir können in diesen Bus steigen", sagte ich, als der nächste ankam. Aber einer der Soldaten packte Papa, zerrte ihn weg und sagte: "Du kannst nicht in diesen Bus steigen, du gehst in einen anderen." Papa sagte zu mir: "Steig in diesen Bus, ich komme danach." Also stieg ich ein. Ich blinzelte, und als ich meine Augen wieder öffnete, war mein Vater weg. Wohin sie ihn gebracht haben, was passiert ist... Ich wusste es damals nicht, und ich weiß es heute immer noch nicht genau.

Ich saß allein im Bus, mit vielen Leuten. Auf dem Weg sahen wir lange Schlangen von Menschen. Mit gefesselten Händen auf dem Rücken. Ich hörte Schüsse. Der Bus wurde angehalten, sie liefen herum und suchten nach Leuten. Dann sitzt du still und wartest einfach. Du weißt nicht, wohin du gebracht wirst oder ob du leben wirst. Ich spürte nur Angst. Wir alle waren hilflos. In ihrer Gewalt. Sie können mit uns tun, was sie wollen.

Wir hielten in Kladanj, außerhalb von Tuzla. Sie befahlen uns, auszusteigen. Das Militär stand auf beiden Seiten der Straße, wir stellten uns in der Mitte auf. Ich sah eine Frau mit ihrem Sohn. Sie zogen ihn aus der Reihe. Seine Mutter packte ihn, hielt ihn nah an sich, aber sie zogen ihn einfach von ihr weg. Am Ende kamen wir dorthin, was sie "unser Territorium" nannten.

Meinen beiden anderen Brüdern und meiner Schwester war es gelungen, durch den Wald zu entkommen. Alle kamen nach Tuzla. Außer Papa. 2006 wurden seine Uhr und die Kleidung, die er trug, gefunden. Wir haben ihn auf dem Gedenkfriedhof in Potočari begraben.

"Ich trage das Trauma meiner Kindheit in mir, ich kann die Schrecken bis heute spüren. Aber unser Sohn ist das Wichtigste."

Zurückgekehrt nach Srebrenica: Merka mit ihrem Sohn und ihrem Mann. Foto: Katerina Ilievska

Es gibt so viele Dinge, an die ich mich erinnere. Was ich nicht vergessen kann. Wir haben so viele verloren. Wir haben lange als Flüchtlinge gelebt. Es war hart. Aber ich habe überlebt. Ich lernte meinen Mann kennen, wir kehrten mit unserem einjährigen Sohn hierher zurück, in das Haus, in dem er geboren wurde. Es war zerstört und es ist schwer, hier einen Job zu finden, von dem man leben kann. Viele werden sich fragen, warum wir an einen Ort zurückkehren, an dem wir so schreckliches erlebt haben. Weil wir keinen anderen Ort hatten, an den wir gehen konnten. Hier hatten wir zumindest ein Dach über dem Kopf, wir bekamen Hühner und eine Kuh. Jetzt bauen wir selbst Lebensmittel an und lagern sie für den Winter. Wir kaufen wenig im Laden, versuchen, mit dem auszukommen, was wir haben. Mein Sohn schenkt mir Leben, Kraft und Freude. Wir reden nicht viel mit ihm über das, was passiert ist, er ist noch jung. Ich trage das Trauma meiner Kindheit in mir, ich kann die Schrecken bis heute spüren. Aber unser Sohn ist das Wichtigste. "Wir leben, wir sind gesund und haben eine gute Zeit zusammen in der Familie", sage ich normalerweise.

Ich bin sehr froh über das, was die SOS-Kinderdörfer hier in Srebrenica tun, und über die Unterstützung, die wir von ihnen bekommen. Sie waren für uns da, als es am schwierigsten war und wir sie am meisten brauchten. Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll, außer danke. Es war so gut, endlich jemanden zu haben, mit dem man reden konnte, über das Leben und die Erfahrungen. Jemand, der zuhört und versteht.

Ich will kein Mitleid, ich erzähle nur das, was ich durchgemacht habe. Es ist in meinem Herzen, jeden Tag, jede Nacht. Ich kann nicht ändern, was passiert ist. Nicht nur mir, sondern vielen Leuten. Jeder hier trägt etwas davon in sich. Es kennzeichnet uns fürs Leben. Ist Teil unserer Seele. Immer."

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